1 | Einleitung |
2 | Nun hast du schon viel über Mädchen- und Jungenarbeit gehört |
3 | und viele Tipps, Anregungen und Methoden bekommen, wie du |
4 | diese in deiner Gruppenarbeit umsetzen kannst. |
5 | »Schön und gut«, denkst du jetzt sicher, »aber die meiste |
6 | Zeit verbringen die Mädchen und Jungen doch gemeinsam in |
7 | meinem Jugendverband und in meiner Gruppe, wie sieht es denn |
8 | dann da aus?« |
9 | Deshalb wollen wir dir in diesem Kapitel den Ansatz der |
10 | geschlechtsbewussten Jugendarbeit vorstellen. |
11 | Dazu geht es im ersten Abschnitt um die Gründe für diesen |
12 | Ansatz. Im zweiten Abschnitt beschreiben wir, was alles zu |
13 | einer geschlechtsbewussten Jugendarbeit gehört. Bevor zum |
14 | Schluss konkrete Praxisbeispiele für deine Gruppenarbeit |
15 | folgen, schildern wir noch die Prinzipien der |
16 | geschlechtsbewussten Jugendarbeit im dritten Abschnitt. |
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18 | Gründe für eine Geschlechtsbewusste Jugendarbeit |
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20 | Sozialisation |
21 | Wie alle hier im Buch beschriebenen Ansätze geht auch die |
22 | geschlechtsbewusste Jugendarbeit davon aus, dass in dieser |
23 | Gesellschaft den Mädchen bzw. Frauen sowie den Jungen bzw. |
24 | Männern je nach Geschlecht Rollen und Aufgaben sowie |
25 | unterschiedliche Verhaltensweisen zugeschrieben werden. |
26 | Andere Mädchen/Frauen und Jungen/Männer zeigen ihnen, was |
27 | dazu gehört, ein »richtiges« Mädchen/ein »richtiger« Junge |
28 | zu sein und eine »richtige« Frau bzw. ein »richtiger« Mann |
29 | zu werden. Dies geschieht überall, in der Familie, in der |
30 | Schule, im Sportverein, in der Jugendgruppe und im Beruf. |
31 | Heranwachsende überprüfen und hinterfragen diese Werte und |
32 | Normen und entwickeln daraus wiederum eigene Normen und |
33 | Werte. |
34 | In der Pädagogik gibt es für diesen, meist unbewussten, |
35 | Erziehungsprozess einen Fachbegriff, den du sicher schon |
36 | 1.000 mal gehört hast, nämlich »Sozialisation«. |
37 | Die Sozialisation beschreibt den Prozess der Wechselwirkung |
38 | zwischen einzelnen Menschen (Individuen) und der Umwelt bzw. |
39 | Gesellschaft. Diese ist, auch wenn sie in der Kindheit und |
40 | in der Pubertät besonders prägend ist, nie abgeschlossen. |
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42 | Rangfolge der Geschlechter |
43 | Zu den eben beschriebenen Geschlechterrollenzuweisungen |
44 | kommt eine Geschlechterrollenbewertung hinzu. Leider ist es |
45 | immer noch so, dass in unserer Gesellschaft alles als |
46 | weiblich bezeichnete eher gering und niedrig und alles als |
47 | männlich bezeichnete eher positiv und hoch bewertet wird. |
48 | Männlichkeit bzw. Mann-sein steht in der Rangfolge weit über |
49 | der Weiblichkeit bzw. dem Frau-sein. Das bringt eine |
50 | erhebliche Benachteiligung und eine mangelnde |
51 | Chancengleichheit für Mädchen und Frauen mit sich. So |
52 | bekommen Frauen z.B. viele qualifizierte Arbeitsplätze |
53 | nicht, weil sie aufgrund von Schwangerschaften, |
54 | Erziehungszeiten, Krankheit der Kinder etc. ausfallen |
55 | könnten. Die so genannten Frauenberufe werden so gering |
56 | bezahlt, dass die Frauen noch nicht einmal in der Lage sind, |
57 | ihren eigenen Lebensunterhalt davon zu bestreiten ... . |
58 | Des Weiteren gibt es zwischen den beiden |
59 | Geschlechterrollenzuschreibungen nur ein »entweder – oder« |
60 | und kein »sowohl als auch«. Jungen mit Anteilen von |
61 | »weiblichem Verhalten« werden deshalb oft als Weichlinge |
62 | oder Schwule beschimpft und Mädchen mit als »männlich« |
63 | bezeichneten Verhaltensanteilen als Mannweib. |
64 | |
65 | Die geschlechtsbewusste Jugendarbeit baut Rangfolgen und |
66 | Rollenzuweisungen ab |
67 | In der bisherigen gemeinsamen Erziehung von Mädchen und |
68 | Jungen (Koedukation) wurde die Wirkung der Erziehung auf die |
69 | Geschlechterrollen sowie die mangelnde Chancengleichheit |
70 | zwischen den Geschlechtern nicht berücksichtigt. Damit trug |
71 | und trägt diese Erziehung immer wieder dazu bei, dieses |
72 | Verhältnis zwischen Mädchen bzw. Frauen und Jungen bzw. |
73 | Männern zu verfestigen. |
74 | Die geschlechtsbewusste Jugendarbeit ist sich dagegen der |
75 | geschlechtsbezogenen Rangfolgen und Rollenzuweisungen |
76 | bewusst. Sie zielt darauf ab, Rangfolgen zwischen den |
77 | Geschlechtern aufzuheben. Sie will stattdessen eine |
78 | Gleichberechtigung fördern, die Mädchen und Jungen Freiräume |
79 | eröffnet, sich ganz ohne einengende geschlechtsbezogene |
80 | Zuordnungen zu entwickeln. Sie will ein »sowohl als auch« |
81 | möglich machen. |
82 | |
83 | Was gehört zu einer Geschlechtsbewussten Jugendarbeit? |
84 | Die geschlechtsbewusste Jugendarbeit hat eine politische und |
85 | eine pädagogische Ebene. |
86 | |
87 | Die politische Ebene |
88 | Auf der politischen Ebene werden die Strukturen |
89 | (Rahmenbedingungen) deiner Organisation betrachtet. Dadurch |
90 | sollen Bedingungen geschaffen werden, die ein breites |
91 | Entwicklungs- und Einflusspotenzial für beide Geschlechter |
92 | ermöglichen. Dies wird ausführlich im Kapitel »Das Prinzip |
93 | Gender Mainstreaming« behandelt. An dieser Stelle vertiefen |
94 | wir ausschließlich die pädagogische Ebene. |
95 | |
96 | Die pädagogische Ebene |
97 | Zur geschlechtsbewussten Pädagogik gehören neben der |
98 | Mädchenarbeit, und derJungenarbeit auch die bewusste |
99 | pä-dagogische Arbeit im koedukativen Rahmen, also Angebote |
100 | mit Jungen und Mädchen gemeinsam. |
101 | Alle drei pädagogischen Ansätze stehen nicht in Konkurrenz |
102 | zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig. |
103 | Mädchen- und die Jungenarbeit sind dir ja schon bekannt, |
104 | deshalb beschreiben wir im Folgenden nur die Grundlagen der |
105 | geschlechtsbewussten Pädagogik mit beiden Geschlechtern. |
106 | |
107 | Prinzipien der Geschlechtsbewussten Pädagogik |
108 | |
109 | Die Rolle der Gruppenleiter-innen |
110 | Als Gruppenleiter-in kommt dir eine ganz besondere Rolle zu. |
111 | Du bist nämlich selbst eine Frau oder ein Mann und als |
112 | solche-r in der Kindheit sozialisiert worden. Außerdem |
113 | stehst du auch weiterhin unter dem Einfluss von anderen |
114 | Männern und Frauen und der Umwelt. |
115 | Wenn du wirklich einen geschlechtsbewussten Blickwinkel in |
116 | deiner Gruppenarbeit einnehmen willst, musst du dich also |
117 | intensiv mit dir und deiner Lebensgeschichte beschäftigen. |
118 | Folgende Fragestellungen können dir dabei helfen: |
119 | Was bedeutet für dich Frau-sein/Mann-sein? Wie bist du zu |
120 | der Frau/dem Mann geworden, die/der du heute bist? Wer oder |
121 | was hat dich darin beeinflusst? Was hast du als |
122 | Benachteiligung erlebt, weil du ein Mädchen/Junge bist? Wie |
123 | gehst du auf Frauen und Männer zu? |
124 | Des Weiteren bist du für die Mädchen und Jungen in deiner |
125 | Gruppe ein Beispiel für »Mann-sein« bzw. »Frau-sein«. |
126 | Beschäftigst du dich nicht mit deiner Geschlechterrolle, |
127 | gibst du unbewusst ein klassisches überliefertes Rollenbild |
128 | weiter. Setzt du dich dagegen mit dir als Frau oder Mann |
129 | auseinander und gehst vielleicht über die Chancen und |
130 | Möglichkeiten hinaus, die dir zugewiesen werden, erweiterst |
131 | du auch die Chancen und Möglichkeiten der Mädchen bzw. |
132 | Jungen. |
133 | Doch keine Angst, du musst jetzt nicht Superman oder -woman |
134 | werden oder sein. Ganz im Gegenteil, erstens handelt es sich |
135 | dabei um einen Prozess: Du veränderst und entwickelst dich |
136 | unter diesen Umständen also Stück für Stück weiter und |
137 | lernst immer wieder neu dazu. Zweitens geht es nicht darum, |
138 | perfekt zu sein, sondern darum, die eigenen Grenzen und |
139 | Möglichkeiten bedingt, durch die Geschlechterzugehörigkeit, |
140 | bewusst wahrzunehmen und die bestimmt auftretenden |
141 | Widersprüche und Rückschläge bei der Überschreitung der |
142 | Grenzen für andere sichtbar und deutlich zu machen. Die |
143 | Mädchen und Jungen nehmen diese Widersprüche zum einen |
144 | sowieso wahr und ziehen ihre eigenen Schlussfolgerungen und |
145 | Lernerfahrungen daraus. Zum anderen merken sie aber, wenn du |
146 | ihnen bewusst deutlich machst, dass es nicht das »reine« |
147 | Bild einer Frau/eines Mannes gibt, sondern ganz viele |
148 | Varianten und Möglichkeiten. |
149 | |
150 | Erfahrungen der Mädchen- und Jungenarbeit |
151 | Die Grundsätze und Qualitätsmerkmale der Mädchen- bzw. |
152 | Jungenarbeit fließen natürlich in die geschlechtsbewusste |
153 | Arbeit mit koedukativen Gruppen ein. Um diese immer wieder |
154 | präsent zu haben, ist ein regelmäßiger Austausch mit den |
155 | Gruppenleiter-inne-n der Mädchen- und Jungengruppen in |
156 | deinem Verband sinnvoll. |
157 | |
158 | Die Zusammensetzung der Gruppen |
159 | Die Zusammensetzung und Leitung der Gruppen sind von großer |
160 | Bedeutung. |
161 | Reine Mädchengruppen sollten von Frauen geleitet werden, |
162 | reine Jungengruppen von Männern und gemischte Gruppen von |
163 | Frauen und Männern. |
164 | Sollte Letzteres nicht sofort möglich sein, musst du deine |
165 | Gruppe natürlich nicht auflösen. Aber vielleicht findet sich |
166 | ja noch eine Ergänzung in der Gruppenleitung mit dem |
167 | »fehlenden« Geschlecht. |
168 | |
169 | Gleichwertiges und gleichberechtigtes Miteinander |
170 | In der geschlechtsbewussten Gruppenarbeit erhalten Mädchen |
171 | und Jungen die Chance, ein gleichwertiges Miteinander kennen |
172 | zu lernen und einzuüben. Sie lernen, unterschiedliche |
173 | Sichtweisen wahrzunehmen und der Verschiedenheit Platz zu |
174 | geben, ohne Rangfolgen aufzustellen. Sie erfahren etwas über |
175 | das andere Geschlecht und lernen, sich in die jeweils andere |
176 | Situation einzufühlen. |
177 | Des Weiteren bietet diese Gruppenarbeit Jungen und Mädchen |
178 | die Möglichkeit, Gleichberechtigung im alltäglichen |
179 | Miteinander zu üben. Sie können hier erproben, eigene |
180 | Positionen und Standpunkte einzubringen und zu verhandeln |
181 | und dabei eine Balance finden, weder die eigenen Standpunkte |
182 | völlig zurückzustellen noch andere unterdrücken zu wollen. |
183 | Beide Geschlechter erhalten gleichermaßen die Möglichkeit, |
184 | alle notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für ein |
185 | selbstbestimmtes Leben zu erlernen und zu entwickeln. |
186 | |
187 | Geschlechtergetrennte Phasen |
188 | Je nach Situation kann es sinnvoll sein, auch deine |
189 | koedukative Gruppe kurzzeitig nach Geschlechtern zu trennen, |
190 | um den Mädchen bzw. Jungen »Schutzräume« zu bieten (wenn es |
191 | z.B. um Sexualität und Gewalt geht oder bei Konflikten |
192 | zwischen den Jungen und den Mädchen). Du wirst mit der Zeit |
193 | ein Gespür dafür bekommen, wann das der Fall ist. |
194 | Wichtig ist dann, dass du dir genau überlegst, wie und wann |
195 | die Gesamtgruppe wieder zusammengeführt werden kann und ob |
196 | und wie die Untergruppen sich gegenseitig von ihren |
197 | Arbeitsergebnissen und Erfahrungen aus der |
198 | geschlechtergetrennten Phase berichten. Das ist im |
199 | Allgemeinen sehr Gewinnbringend für beide Seiten. |
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3. neXTgender - Geschlechtsbewusste Jugendarbeit (Originalversion)
von MDee, angelegt